MN436 - Gruppen- und Organisationsdynamik - Dependenzmodell

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Das Dependenzmodell

Nach Durcharbeit dieses Kapitels sollen Sie in der Lage sein:

  • zu verstehen, welche Entwicklungsphasen Menschen für ihre Entwicklung brauchen
  • Ihre eigene Entwicklung zu reflektieren

Das hier besprochene Denkmodell ist überhaupt das älteste sozialwissenschaftliche Modell und beschäftigt sich mit dem Problem der Abhängigkeit. Abhängigkeiten zu haben ist eines der Grundprobleme von Menschen in ihrem hierarchischen System. Abhängigkeiten sind aber notwendig, da Menschen sich sonst nicht organisieren könnten, und Abhängigkeiten sind problematisch, weil sie unsere Freiheiten einschränken, den Menschen zu einer Maschine, einem abhängigen Instrument machen.

Wir stellen nun die These auf, dass es genau nur drei Formen von Abhängigkeit gibt. Man kann diese am besten verstehen, wenn man sie entwicklungsgeschichtlich betrachtet, zunächst einmal vom Individuum her.

Die Phasen der Abhängigkeit

Der Mensch wird geboren — wir haben zu diesem Zeitpunkt den Zustand der Dependenz, der völligen Abhängigkeit. Diese Dependenz ist Bedingung des Überlebens. Es sind zwei Menschen da, aber nur einer davon trifft Entscheidungen. Das Kind wird davon betroffen — würde man die Entscheidungen für das Kind nicht treffen, hätte das Kind keine Überlebenschancen. Daher muss ein Kind einen Pullover anziehen, wenn der Mutter kalt ist.

Diese Abhängigkeit verändert sich im Laufe der Zeit. Im Laufe der kindlichen Entwicklung zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr gibt es irgendwann einmal die Situation, in der z.B. die Mutter sagt: „So, jetzt kommst du zum Essen“ und der Kleine sagt auf einmal: „nein“. Mütter sind in solchen Fällen dann oft erstaunt und wissen im ersten Moment nicht, wie sie darauf reagieren sollen — meistens jedoch in der Form, dass das Kind zum Essen gedrängt wird: Die Mutter weiß schließlich, wie viel Nahrung das Kind braucht, da sie ja alle Entscheidungen trifft und daher auch das notwendige Wissen hat (haben muss): „Sag doch nicht Nein, du hast ja Hunger, du musst was essen!“ und man zerrt das Kind zum Essen. Und das kann eskalieren. Manche Kinder fangen dann an zu schreien, müssen gezwungen werden, kurz und gut: Das Kind will nicht. Und wenn man das Kind nach einiger Zeit fragt: „warum nein?“, dann kann es keinen Grund nennen, sondern nur, dass es etwas nicht will, was die Mutter will. Das ist für das Kind ein ganz bestimmendes, notwendiges Erlebnis. Diese Phase wird in ihrer Wichtigkeit stark unterschätzt und von den Erwachsenen „Trotzphase“ genannt. Das ist aber das Gefühl, das die Erwachsenen dabei haben, die als Beteiligte ihre eigenen Gefühle mitbewerten. Der Sinn dieser Phase ist der, dass das Kind erstmals darauf kommt, dass es einen eigenen Willen hat. So lange das Kind immer nur das will, was auch die Mutter oder der Vater will, weiß es nicht, ob es das selber will oder nicht. Die einzige Möglichkeit draufzukommen, dass sein Wille sein Wille ist, ist, dass das Kind einmal „Nein“ sagt. Es weiß zwar nicht, was es will, sondern weiß nur, was es nicht will, nämlich das, was die Eltern von ihm wollen. Verbal kann sich dies in der Extremform äußern, indem die Kinder sagen: „Ich will Nein!“

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Diese erste Identitätsfindungsphase, die so genannte Trotzphase, dauert in etwa acht Wochen und es gibt zwei Erziehungsfehler, die man in der Rolle der Eltern begehen kann: Der eine Fehler stammt aus der klassischen Erziehung, der Art unserer Eltern und Großeltern: Man lässt Trotz nicht aufkommen, benützt die eigene Stärke für Repressionsmaßnahmen, die Kinder werden auf unterschiedlichste Weise bestraft: Sie bekommen nichts zu essen, werden eingesperrt oder verprügelt – sie müssen schließlich gehorchen lernen und sich dem Willen der Erwachsenen beugen.

Wenn der Gehorsam mit so krassen Methoden erzwungen wird, so ist es möglich, manchen Menschen in diesem Alter den Willen zu brechen. Sie werden – das ist heute die allgemeine Auffassung der Entwicklungspsychologie – in ihrem Leben nie wieder einer Autorität Widerstand leisten können. Wenn sie im Berufsleben von dem*der Direktor*in richtig angepflaumt werden, dann sagen sie: “Jawohl“. Solche Menschen werden autoritäre Strukturen bevorzugen und fühlen sich nicht wohl, wenn man ihnen nicht genau sagt, was sie tun sollen. Man bezeichnet dies als „autoritäre Übertreibung“ der Erziehungssituation.

Es gibt aber auch den umgekehrten Fehler, die antiautoritäre Übertreibung: Wenn ein Kind gegen eine Regel verstößt, gegen eine Anordnung sich wehrt, lässt man es gewähren. Diese Methode ist im Endeffekt genauso falsch und gefährlich wie die erstere. Der Sinn dieses Widerstandes besteht ja darin, gegen eine Regel zu verstoßen. Dazu braucht das Kind aber ein Gesetz. Wenn man eine Gummiwand aufbaut und sagt: „Ja, hast eh recht“ – dann gelangt man mit dieser Methode auch recht bald an eine Grenze: Spätestens im Straßenverkehr muss man das Kind, wenn es sich losreißen will, festhalten und ihm seine Grenze zeigen. Die Situation der Eltern ist vergleichbar mit einer Segeltour zwischen Skylla und Charybdis: Es ist ausgeschlossen, dabei keine Fehler zu machen.

Nach einiger Zeit ist die erste Trotzphase vorbei und es kehrt wieder Ruhe ein.

In der Pubertät kommt diese Phase wieder und erreicht einen Höhepunkt. Die Söhne (bei den Töchtern ist es ähnlich) fangen an, die Lebensweise und die Entscheidungen der Eltern in jedem nur erdenklichen Punkt zu kritisieren: Ihr Beruf ist uninteressant, die Art und Weise Urlaub zu machen spießig und das Auto eine Gurke. Die Jugendlichen probieren aus, gegen welche Entscheidungen der Eltern sie revoltieren können: Man räumt das Zimmer nicht mehr auf und hilft nicht bei der Hausarbeit: Mal sehen, wie sich die „Alten“ dagegen auflehnen, wenn man nicht das tut, was sie wollen: Wenn der Vater A sagt, dann sagt der Sohn B und umgekehrt. Das ist allerdings auch eine Form von Abhängigkeit, jedoch mit umgekehrtem Vorzeichen: Wir befinden uns in der Phase der „Konterdependenz“, der „Gegenabhängigkeit“. Sie ist deswegen eine Form der Abhängigkeit, weil man ja wiederum eine Anordnung braucht, um dagegen zu sein. Nur ist es schon sehr viel differenzierter als in der Trotzphase, denn es betrifft das gesamte Leben des Vaters: Wenn er religiös, fromm, katholisch, evangelisch ist, lässt der Sohn überall das kommunistische Manifest herumliegen, weil er weiß, dass das den Vater ärgert. Wenn der Vater ein Linker ist, entdeckt er plötzlich die Bibel, geht in die Kirche usw.

In dieser Phase gibt es auch wieder zwei mögliche Fehlhaltungen. Die eine ist die autoritäre Übertreibung: Z. B. der Vater hat eine Rechtsanwaltskanzlei, der Sohn sagt: „Ich studiere aber Medizin.“ „Kommt ja gar nicht infrage, du studierst Jus”, antwortet der Vater. Der Sohn sagt, „Ich studiere aber Medizin.“ „Gut“, sagt der Vater, „dann zahl dir das Studium selber, schau, dass du ein Stipendium kriegst.“ Das kriegt er ohnehin nicht, der Vater verdient zu viel, daher sagt der Sohn: „Gut, du hast recht, dann studiere ich doch Jus.“ In dem Fall hat der Sohn die Kurve gekratzt und ist eigentlich zur Dependenz zurückgekehrt.

Wir kennen aber auch das andere Extrem. Angenommen, der Vater plant einen gemeinsamen Familienurlaub in Italien. Eines Tages beim Mittagessen sagt der junge Mann, dass er nicht mitfährt. Der Vater greift in die Tasche und gibt ihm ein paar Hunderter mit den Worten: „Gut, fahr wohin du willst.“ Der Sohn wird plötzlich still, denn er hat ja Widerstand erwartet: Der Vater wird ihn zwingen wollen und schimpfen, in jedem Fall eine Mauer gegen seine Konterdependenz aufrichten. Stattdessen hat der Vater sofort nachgegeben und der Sohn nimmt jetzt an, dass die Eltern ihn nicht mitnehmen wollten. Plötzlich will der dann doch mitfahren.

In dem Fall hat der Vater die Kurve gekratzt und der Sohn ist wieder in die Dependenz zurück gefallen. Wir haben hier eine schwierige Situation: Wenn der Sohn nachgibt, bleibt Dependenz, wenn der Vater nachgibt, bleibt auch Dependenz. Wir können daraus schließen, dass der Sinn sowohl der autoritären wie der antiautoritären Erziehung ist, dass die Kinder dependent bleiben. Beide haben genau dasselbe Ziel und auch genau denselben Effekt. Es muss also zu einem notwendigen Konflikt kommen, den man nicht vermeiden darf, wenn Identität entstehen soll.

Es gibt Menschen, die bleiben zeitlebens abhängig, etwa vom Elternhaus z.B. und es gibt Kulturen, wo das verlangt und unterstützt wird. In unserem Kulturkreis ist in gewissem Maße die Selbstständigkeit des Menschen gefragt, daher muss man durch diese Sollbruchstelle durch. D.h., nur wenn der Sohn eine Entscheidung trifft gegen den Willen seines Vaters und der Vater bleibt dabei, dass das blöd ist, und der Sohn das macht, obwohl der Vater sagt, dass das blöd ist, dann und nur dann kann der Sohn sicher sein, dass das seine eigene Entscheidung ist. Dann und nur dann ist Entwicklung zum reifen Menschen möglich.

Selbstverständlich können auch problematische Situationen entstehen, wenn Konterdependenz zu Ende geführt wird: Wenn junge Menschen deswegen heiraten, weil die Eltern dagegen sind, dann erschöpft sich die Funktion des*der Ehepartner*in recht bald nach der Hochzeit — der*die andere war in erster Linie da, um eine Entscheidung gegen die Eltern zu treffen.

Meistens gelingt die Ablösung mithilfe einer Konkurrenzautorität: Das kann ein*e Lehrer*in, ein*e Fußballtrainer*in, ein Mädchen*Junge sein, um gegen das Elternhaus zu protestieren. Etwas, worüber die Eltern sich wahnsinnig ärgern. Man vermutet, dass die meisten Ehen, die innerhalb des ersten Jahres geschieden werden, diese Konterdependenzfunktion hatten.

Autoritäten sind notwendig und werden von Menschen auch gesucht: Wenn der Vater nicht vorhanden ist, dann richtet sich die Konterdependenz gegen die Mutter oder gegen die Großmutter. Wenn man sie in der Familie nicht finden kann, dann muss der*die Lehrer*in in der Schule herhalten – wenn diese*r aufgrund einer Überzahl an konterdependenten Schüler*innen überfordert ist, so sucht man sich andere Autoritäten, die einem den „Reibebaum“ bieten können, den man braucht, um Widerstand aufzubauen; die Polizei bietet sich hier an. Manche Menschen verbleiben auch nach der Pubertät in vielen wichtigen Bereichen ihres Lebens konterdependent und gehen z. B. bis ins hohe Alter demonstrieren, egal wogegen.

Wenn nun jemand gegen den Willen der Autorität eine Entscheidung getroffen hat und auch dabeigeblieben ist, dann ist der Glaube an eine erlangte Freiheit leider eine Illusion. Der junge Mann ist jetzt z.B. verheiratet und wieder nicht frei, sondern abhängig, und zwar gegenseitig. Wir nennen dies Interdependenz oder auch „wechselseitige Abhängigkeit“, die dritte Stufe in unserem Modell. Die gibt es auch in einer Arbeitsgruppe, wenn drei, vier oder fünf Personen zusammen sind, die anderer Meinung sind, und miteinander koordiniert werden müssen. A ist von B genauso abhängig wie B von A – was es dabei nicht gibt, ist die Independenz, die Unabhängigkeit. Das ist eine Illusion in der Konterdependenz, nämlich die Vorstellung, man könnte unabhängig sein. Unabhängig sind nur zwei Menschen, die nichts miteinander zu tun haben. Sobald sie etwas miteinander zu tun haben, dann handeln sie entweder so, dass sie alles, was einer sagt, für richtig halten, dann sind sie dependent; oder alles, was einer sagt, für falsch halten, dann sind sie konterdependent.

Ebenfalls unmöglich ist der Weg von der Dependenz in die Interdependenz unter Verweigerung der Konterdependenz. Dieser Weg durch die Konterdependenz muss auf jeden Fall überall dort gegangen werden, wo es Dependenzen gibt. Dabei können zwischen zwei Menschen alle drei Phasen auch gleichzeitig auftreten: Man kann bei jedem Menschen Dimensionen aufzeichnen, in denen er dependent ist, andere, wo er konterdependent ist und wieder andere Dimensionen, wo er interdependent ist.

Das Problem wird kulturspezifisch unterschiedlich gelöst: Im Irak etwa ist die Partnerwahl ein Problem der Dependenz. Der Vater des Bräutigams und der Vater der Braut tun sich zusammen und beschließen, dass die Kinder heiraten. Diese dürfen sich vorher nicht sehen und nach Abwicklung der Trauungszeremonien — es geschieht alles unter Schleier — erst dann sieht der Sohn, welche Braut ihm der Vater „untergejubelt“ hat. Die Braut dem Bräutigam vorher zu zeigen ist verboten, das ist ein „Tabu“. Das Tabu schützt Autorität vor Konterdependenz. Es ist ganz klar, dass so mancher Jüngling, wenn der Vater ihm die Braut zeigt, sich weigert, und dann beginnt die Konterdependenz. Damit das nicht passieren kann, darf man die Frau nicht anschauen, nicht reden, nicht diskutieren, es ist indiskutabel. Das gibt es bei uns auch: „Ihnen fehlen die Informationen!“, heißt es dann. „Sie wissen ja gar nicht, welche Gesichtspunkte Sie geleitet haben.“ Wir finden hier immer die soziale Funktion des Tabus.

Das Emanzipationsmodell und der Sündenfall

Eine Autorität allein kann nur schwer relativiert werden, da Dependenz in sich kein Kriterium der Konterdependenz haben kann. Die Negation muss von außen kommen. Identität ist immer schon vorausgesetzt, damit Identität überhaupt gefunden werden kann. Hier liegt die gleiche Problematik wie bei der Erklärung der Sprache und der Erkenntnis vor. Müsste man nicht zur Erkenntnis verführt werden, dann wäre Erkenntnis immer schon vorhanden, damit sie möglich ist. Diese Dialektik der Emanzipation ist in zahlreichen Mythen immer wieder reflektiert worden. Der bekannteste ist der vom Sündenfall in der Bibel:

Gott, die Autorität schlechthin, “schuf am Anfang Himmel und Erde“ (Genesis 1,1). Damit ist Gott das Prinzip aller Abhängigkeit, da es nichts gibt, was nicht von ihm abhängig wäre. Nach dem Genesismythos schuf Gott auch noch den Menschen: „Dann pflanzte Gott der Herr einen Garten in Eden, fern im Osten und versetzte dahin den Menschen, den er gebildet hatte. Und Gott der Herr ließ aus dem Boden allerlei Bäume hervor wachsen, deren Anblick lieblich und deren Früchte wohlschmeckend waren.“

Darunter auch den Baum des Lebens in der Mitte des Gartens und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. (Genesis 2,25) Im dritten Kapitel des Genesis - Berichtes wird nun die Emanzipationsproblematik in einer allgemeinen und klassischen Form wiedergegeben:

„Die Schlange aber war listiger als alle Tiere des Feldes, welche Gott der Herr gemacht hatte. Sie sprach zu dem Weibe: hat Gott wirklich gesagt, von keinem Baume des Gartens dürft ihr essen? Das Weib entgegnete der Schlange: von den Früchten der Bäume des Gartens dürfen wir essen, nur von den Früchten des Baumes, welcher in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt, davon dürft ihr nicht essen, ja nicht einmal daran rühren dürft ihr sonst müsst ihr sterben. Da erwiderte die Schlange dem Weibe: keineswegs werdet ihr sterben. Gott weiß vielmehr, das sich an dem Tage, da ihr davon esset, eure Augen auftun werden und ihr wie Gott sein werdet, erkennend Gutes und Böses. Jetzt sah das Weib, das die Früchte des Baumes wohlschmeckend und eine Lust für die Augen und begehrenswert seien, um durch sie weise zu werden. So nahm sie von seinen Früchten und aß und gab davon auch ihrem Manne, der bei ihr war und er aß auch. Nun gingen beiden die Augen auf und sie erkannten, das sie nackt seien. Deshalb flochten sie Feigenblätter zusammen und machten sich Schürzen. Als sie aber die Stimme Gottes, des Herrn, hörten, der sich im Garten zur Zeit des Tagwindes erging, da versteckten sich Adam und sein Weib vor Gott, dem Herrn, unter den Bäumen des Gartens.

Aber Gott der Herr rief nach dem Menschen und fragte ihn: wo bist du? Der antwortete ihm: deine Stimme hörte ich im Garten und fürchtete mich, denn ich bin nackt, darum habe ich mich versteckt. Da sprach Gott: wer hat dir kundgetan, das du nackt bist? Hast du etwa von dem Baume gegessen, von dem zu essen ich dir verboten habe? Adam entgegnete: die Frau, die du mir beigestellt hast, die gab mir von dem Baume und so aß ich. Nun fragte Gott das Weib: warum hast du das getan? Das Weib erwiderte: die Schlange verführte mich, da habe ich gegessen. Da sprach Gott der Herr zur Schlange: weil du das getan hast, darum sollst du verflucht sein unter allem Vieh und den Tieren des Feldes. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens. Feindschaft setze ich zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Spross und ihrem Spross. Der wird dir den Kopf zertreten und du wirst ihn nur an der Ferse verletzen. Zum Weibe sprach er: Zahlreich werde ich machen die Beschwerden deiner Mutterschaft, in Schmerzen sollst du Kinder haben und doch wirst du nach deinem Manne verlangen, der dich beherrschen wird. Zu Adam aber sagte er: weil du auf die Stimme deines Weibes gehört und von dem Baume gegessen hast, von dem ich dir verboten habe, du sollst nicht davon essen, so soll der Erdboden deinetwegen verflucht sein. Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren alle Tage deines Lebens. Dornen und Disteln soll er dir tragen und doch musst du das Kraut des Feldes essen. Im Schweiße deines Angesichtes wirst du das Brot essen bis du zur Erde zurückkehrst, von der du ja gekommen bist, denn Staub bist du und zum Staube musst du wieder zurück. Und Adam nannte seine Frau Eva, denn sie ward die Mutter aller Lebendigen. Gott, der Herr, aber machte für Adam und sein Weib Kleider aus Fellen und bekleidete sie damit. Und Gott, der Herr, sprach: Führwahr, der Mensch ist wie unsereiner geworden, so dass er erkennt, was gut und böse ist. Nun aber, damit er nicht seine Hand ausstrecke und auch vom Baum des Lebens nehme und esse und lebe ewiglich, vertrieb ihn Gott, der Herr, aus dem Garten von Eden, damit er den Boden bearbeitete, dem er entnommen war. Und als er den Menschen hinausgetrieben hatte, stellte er im Osten des Gartens von Eden die Cherubim und die Flamme des blitzenden Schwertes hin, um den Weg zum Baume des Lebens zu bewachen.“ (Genesis 3,1 - 24)

Die Negation dieses Gebotes wird in diesem Mythos radikal verstanden, denn nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis bestätigt Gott, der vorher mit dem Tode gedroht hatte, die Prophezeiung der Schlange: der Mensch ist gottähnlich geworden, indem er erkennt, was gut und böse ist. In der Dependenz gibt es keine eigene Entscheidung des*der einzelnen. Gut und Böse sind durch die Vorschriften der Autorität bzw. des Standards geregelt. Wer keine eigenen Entscheidungen trifft, ist für fremde Entscheidungen auch nicht verantwortlich. Erst das Essen vom Baume der Erkenntnis — womit der Mensch den gesicherten Bereich der Dependenz verlässt — führt zu einer Unterscheidung von gut und böse. Dependenz kann nach dem Genesis-Mythos aber nur durch die Negation der Autorität und ihres Gebotes verlassen werden. Die Missachtung des Verbotes kam aber im Paradies nicht von den Menschen selber, sondern der Impuls zur Konterdependenz kam von außen, von der Schlange. Hier treffen wir im Mythos auf das Voraussetzungsproblem. Denn auch die Schlange — sie gilt als die Inkorporation des Teufels — ist einst von Gott abgefallen.

Luzifer, der „zweite Mensch in der Hierarchie“, hatte sich mit dem*der Chef*in überworfen und verführt nun die Geschöpfe. Auch hier müsste man natürlich die Frage stellen: Wie kam es zum Sündenfall Luzifers, des Lichtträgers? Der Sündenfall ist immer schon vorausgesetzt, damit er möglich wird, wie die Sprache immer schon vorausgesetzt ist, damit gesprochen werden kann. Erkenntnis setzt schon Erkenntnis voraus.

Ein interessanter Hinweis auf Paarbildung findet sich im Genesis-Mythos unter den Folgen des Sündenfalls. Das erste, was Adam und Eva bemerkten, ist ihre Nacktheit. Damit ist der Zusammenhang von Konterdependenz und Intimsphäre angesprochen. Die Negation der Autorität, das Verlassen der Dependenz, ist zugleich die Abschirmung einer Eigensphäre, der Versuch, eine Eigenidentität zu bekommen. Adam und Eva versteckten sich vor der Autorität Gottes im Garten. Zur Selbstbestimmung gehört die Kontrolle über die Intimsphäre, die Kommunikation in Subgruppen, z.B. in Paaren. Die Konterdependenz wird aber nicht nur zwischen den Menschen und Gott angesprochen, sondern auch zwischen den Menschen. Adam wird ja von Eva verführt, und Eva von der Schlange. Die Verführung als Dependenz verwandelt sich durch das Essen vom Baum der Erkenntnis in Konterdependenz. Die Autorität Gottes wurde für Eva durch die Schlange relativiert, für Adam durch Eva. Trotz aller Schwierigkeiten wird Eva nach dem Manne verlangen, obwohl er über sie herrschen wird. Weil Adam auf sein Weib hörte, statt auf Gott, wird der Erdboden verflucht sein und Dornen und Disteln tragen.

Was hier beschrieben wird, ist noch keine sehr freie und glückliche Form der Selbstbestimmung, sondern der erste Versuch, Dependenzen zu verlassen und durch andere zu ersetzen — sozusagen der Beginn eines langen Entwicklungsprozesses. Damit geht der Verlust des Paradieses einher, in dem in dependenter Weise alle für das Überleben wichtigen Funktionen anderen Instanzen überlassen wurde. Diese Instanzen sind etwa die Programme der Erbkoordination oder die erwachsenen Tiere, die Gruppe oder der Stamm. Der jedenfalls zu einem Teil emanzipierte Mensch beneidet mitunter in romantischer Sehnsucht nach dem Paradies die Tiere um ihre unmittelbare Dependenz.

Weitere Details finden sich in: Schwarz, Gerhard, Die „Heilige Ordnung“ der Männer – Hierarchie, Gruppendynamik und die neue Rolle der Frauen, 5. Auflage, VS-Verlag, Wiesbaden 2007

Aufgaben

Das ist nicht einfach – aber versuchen Sie es:

1.) In welchen Lebensbereichen sind Sie Ihrer Wahrnehmung nach dependent?

2.) Wo stecken Sie in der Konterdependenz?

3.) Wo haben Sie Interdependenz erreicht?

4.) Erinnern Sie sich an ein Ereignis in Ihrem Leben, wo Emanzipation eine wichtige Rolle gespielt hat. Was haben Sie daraus gelernt?

5.) Denken Sie an die Arbeit – wo bereitet Ihnen ein Aspekt des Emanzipationsmodells Schwierigkeiten?