MN436 - Gruppen- und Organisationsdynamik - Gruppenfunktionen
Gruppenfunktionen
Nach Durcharbeit dieses Kapitels sollen Sie in der Lage sein:
- die verschiedenen Funktionen, die Gruppen erfüllen können, zu definieren bzw. zu erkennen.
- eine erste Idee zu haben, ihre eigenen Funktionen in Gruppen reflektieren zu können bzw. zu wollen.
Anmerkung: Wahrscheinlich können Sie das Versprochene natürlich noch nicht, aber Sie haben eine erste Ahnung bzw. die theoretische Grundlage. Gruppendynamik erlernt man nicht durch das Aneignen von Theorie, sondern durch das Sammeln eigener Erfahrungen samt anschließender Reflexion.
Gruppen werden in unserer Gesellschaft, die durch die Organisationsform der Hierarchie dominiert wird, stets als ein wenig suspektes Gebilde angesehen, die man nicht ganz begreift, obwohl man sich in ihnen wohl fühlt. Mit anderen Worten: Gruppen können emotionale Heimat und Geborgenheit bieten – etwas, was Hierarchie nur in den seltensten Fällen leisten kann.
Gruppen sind eine uralte Organisationsform mit ebenso alten Gesetzmäßigkeiten was ihre Entstehung, Entwicklung, Dauerhaftigkeit und auch ihr Auseinanderbrechen, ihren Tod bedeutet.
Damit Gruppen funktionieren können, müssen bestimmte Funktionen wahrgenommen werden. In diesem Punkt sind Gruppen „anthropomorph“, d.h. sie funktionieren wie ein Organismus, bei dem auch bestimmte Organe funktionieren müssen, damit er überlebt.
Der Vergleich hinkt jedoch ein wenig: Gruppen können ihre Funktionen bzw. deren Ausübung auf unterschiedliche Gruppenmitglieder verteilen und diese können in diesen Funktionen auch untereinander wechseln – eine Leber hingegen wird immer die Funktion ausüben, die eine Leber ausüben muss und kann und sie wird nicht eines Tages sagen: „He, Nieren, übernehmt doch einmal für einen Monat meine Funktion und ich eure...“
Wichtig ist jedoch, dass eine gewisse Anzahl an Funktionen in der Gruppe wahrgenommen werden, damit sie nicht auseinander fällt – Anzahl und die Art hängen ganz von der Zusammensetzung der Gruppe, der Interessen ihrer Mitglieder sowie dem Ziel und der Einbindung in die Organisation ab, durch die die Gruppe gegründet, ins Leben gerufen wurde (sofern es eine solche gibt).
Die Übernahme von Funktionen kann freiwillig erfolgen oder durch verschiedene Mitglieder an ein spezielles Mitglied (oder mehrere) herangetragen werden. Dem muss nicht immer eine bewusste Entscheidung zugrunde liegen, wie übrigens in der Gruppendynamik Entscheidungen generell nicht immer getroffen werden, sondern manchmal (und zwar öfter als man denkt) schlicht und einfach „passieren“. (Um das zu zeigen, gibt es in einer Präsenzphase eine passende Übung.)
Folgende Funktionen müssen wir voneinander unterscheiden:
Zielorientierte Gruppenfunktionen
- Zielsetzung
- Methodenvorschläge
- Initiative
- Informationssuche
- Informationen geben
- Meinungssuche
- Meinungsäußerung
- Aufbauarbeit an anderen Beiträgen
- Zusammenfassen
In Arbeitsteams, die von einer zentralen Autorität ins Leben gerufen werden, sind diese Funktionen meist vordefiniert. Es gibt meist eine*n Gruppen- bzw. Teamleiter*in, der*die damit beauftragt ist, diese Funktionen auszuüben. Er*sie wird auch in seiner*ihrer Leistung von der Hierarchie danach beurteilt und muss dafür die Verantwortung übernehmen.
Diese Funktionen sind wichtig, damit die Gruppe etwas leistet, damit gearbeitet wird. Gruppen, die sich zu sehr um diese Funktion kümmern und andere wichtige Funktionen vergessen oder einfach nicht zu besetzten bereit sind, fangen sehr schnell zu streiten an. Dann geht selbstverständlich auch in der Arbeit nichts mehr weiter und die Gruppe läuft Gefahr auseinander zu brechen oder von einer Autorität auseinander gerissen zu werden.
Dem kann man entgehen, wenn folgende Funktionen ausgeübt werden:
Gruppenorientierte Funktionen
- Gruppengefühle ausdrücken
- Festlegen und hinweisen auf Gruppennormen
- aufmuntern, ermutigen
- Verständnis zeigen, zuhören
- Zurückweisungen neutralisieren
- Spannungen ausgleichen (ev. durch einen Witz lösen)
- Mitlaufen
- Gefühle der Minorität berücksichtigen
- Widerstände aufarbeiten und nicht bagatellisieren, übergehen, zurückdrängen oder niederstimmen
- Außenseiter*innen integrieren
Diese Funktionen sind ebenso wichtig wie die zielorientierten Funktionen. Wenn sie gut erfüllt werden, hat die Gruppe eine gute Chance, auch in der Arbeit was weiterzubringen.
Hier kommt leider ein Mechanismus zum Tragen, der durch die übermäßig hohe Macht der hierarchischen Organisationen negative Auswirkungen auf die Entwicklung und auch auf die Arbeitsfähigkeit von Gruppen hat: Wenn in einem Unternehmen ein Team neu gegründet wird, dann bedeutet das meistens, dass Mitarbeiter*innen aus verschiedenen Abteilungen zusammengewürfelt werden. Manchmal kennen sie sich, manchmal nicht. In jedem Fall ergibt die Zusammensetzung jedoch eine neue Gruppe, die in dieser Konstellation noch nicht zusammengearbeitet hat.
Diese Gruppe ist somit eine junge Gruppe, sie gleicht quasi einem Neugeborenen, das erst die Welt erkunden muss, bevor es sich seiner selbst bewusst wird.
Gruppen geht es ähnlich: eine junge Gruppe muss zuerst einmal zu sich selbst finden. Dazu muss sie Normen und Regeln festlegen und diese auch leben, d.h. ausprobieren, modifizieren, reflektieren und schließlich in das Repertoire der gültigen Normen aufnehmen.
Weiters müssen die Mitglieder einander kennen lernen, damit die mindestens notwendige Vertrauensbasis geschaffen ist. In Organisationen kann dieser Prozess oft erheblich abgekürzt werden, da man meist langjähriges Mitglied ein und derselben Unternehmenskultur ist und den gleichen Stallgeruch hat.
Erst wenn die Gruppe zusammengewachsen ist, ihre Normen und Regeln festgelegt hat und viele wichtige Verhaltensweisen einmal erlebt und durchlebt hat, macht es Sinn ihr eine spezielle Arbeitsaufgabe zukommen zu lassen. ERST DANN sind sie fähig und bereit zu arbeiten und werden auch erst dann gute und brauchbare Ergebnisse liefern.
Das Problem besteht nun nicht darin, dass die meisten Chef*innen in den Unternehmen ihren Mitarbeiter*innen da und dort zu wenig Zeit geben, um die Gruppe eine Entwicklung zu gönnen, sondern darin, dass sie ihnen GAR KEINE ZEIT geben (und das ist nun doch nicht gerade viel). Die Gruppen werden gezwungen von Anfang an Ergebnisse zu liefern und mindestens fähig zur Zusammenarbeit zu sein.
Welche Mitglieder sollen nun zu welchen Funktionen herangezogen werden?
Die Antwort ist einfach: diejenigen, die sich am besten dafür eigen. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass dies auch die gescheitesten oder fleißigsten Mitglieder sein müssen. Eine Gruppe tut gut daran zuerst einmal die Stärken und Schwächen ihrer Mitglieder auszuloten und erst dann die Funktionen zu verteilen.
Dabei stellt sich meist heraus, dass man manche Leute falsch eingeschätzt hat. Je genauer die Analyse der Stärken und Schwächen, umso weniger Geld und Zeit muss man später für eine Begradigung einer sehr kurvigen Strecke aufwenden. Am Beginn zu sparen kommt oft teurer als mühsame Vorarbeit zu leisten.
Generell würde man annehmen, dass Männer besser für die zielorientierten und Frauen besser für die gruppenorientierten Funktionen geeignet wären. Diese Ansicht musste inzwischen korrigiert werden, wenngleich gewisse Voraussetzungen auf eine Prioritätenverteilung hindeuten:
Die Frauen werden – nicht zu Unrecht – oft als Ernährerin und Fürsorgerin dargestellt. Die Männer haben sich diese Rolle als Ernährer, als einer, der die Mutterbrust reichen kann, wieder zurückgekauft, und zwar mit der Brieftasche als mehr oder weniger brauchbarem „Mutterbrustersatz“.
Neben den oben erwähnten Funktionen gibt es noch Mischformen, wie etwa analytische Funktionen (Bewertung und Kritik von Beiträgen, Prozessanalyse, Feststellen von fehlenden Gruppenfunktionen etc.). Dies sind eher den zielgerichteten Funktionen zuzuordnen, aber nicht ganz: wenn die Einigkeit der Beschlussfassung überprüft oder analysiert wird, ob gewisse Gruppenfunktionen nicht ausgeübt werden, dann hat das auch direkten Einfluss auf das Gruppengeschehen, auf die sozialen Beziehungen und wäre somit auf jeden Fall auch den gruppenorientierten Funktionen zuzurechnen.
Abwehrfunktionen
Hier handelt es sich um kollektive Abwehrmechanismen, deren Funktion es ist, die Gruppeneinheit zu wahren. Es sind dies vor allem Abwehrfunktionen wie sie von Bion und Anna Freud beschrieben wurden (Kampf, Flucht, Pairing, Sündenbock schaffen, Verneinung, Verschiebung, Rationalisierung und Projektion). Jeder dieser Abwehrfunktionen liegt ein Inhalt zugrunde, den es abzuwehren gilt.
Die Abwehrfunktionen werden nach außen, aber auch nach innen eingesetzt. Sie sind in der Gruppe nur schwer thematisierbar und wenn, dann nur in reifen Gruppen, die über ein ausreichendes Maß an Selbstreflexion verfügen.
Gruppenfremde Funktionen
Das sind Tätigkeiten der Mitglieder, die weder der Gruppenerhaltung noch der Zielerreichung dienen. Es sind Verhaltensweisen egozentrischer Art, die der Gruppe in keiner Weise weiterhelfen. Da sie jedoch für die einzelnen Mitglieder von erheblicher Bedeutung sein können, muss ihrer Ausübung eine gewisse Toleranz entgegengebracht werden. Einige davon sind Herumblödeln, Selbstdarstellung, zwanghafter Wettbewerb oder Verzögerungstaktiken.
Aufgaben
Eigene Rolle in Gruppen Welche der obigen Funktionen üben Sie in Gruppen...
1.) ...gerne aus:
...und warum?
2.) ...nicht gerne aus:
...und warum?